Diese Website verwendet Cookies, damit wir dir die bestmögliche Benutzererfahrung bieten können. Cookie-Informationen werden in deinem Browser gespeichert und führen Funktionen aus, wie das Wiedererkennen von dir, wenn du auf unsere Website zurückkehrst, und hilft unserem Team zu verstehen, welche Abschnitte der Website für dich am interessantesten und nützlichsten sind.
Längsschnittliche Studien und Kohortenstudien
- 20. Juli 2018
- Posted by: Mika
Längsschnittliche Untersuchungen bieten sich an, wenn Veränderungen über die Zeit erfasst werden sollen. Auch wenn Du langfristige Verläufe und Effekte von Interventionen nachweisen möchtest, bedarf es mehrerer Erhebungszeitpunkte. Außerdem sind sie oft eine Annäherung an kausale Untersuchungen: Wenn die unabhängige Variable nicht manipuliert werden kann, so ist es dennoch möglich, diese zu einem ersten Zeitpunkt zu erheben und den weiteren Verlauf der abhängigen Variablen zu verfolgen.
Dennoch ist bei einer kausalen Interpretation solcher Designs höchste Vorsicht geboten. Nehmen wir einmal an, Dich interessiert, ob Streptokokkeninfektionen das Risiko an bestimmten neurologischen Krankheiten, z.\, B. Tourettesyndrom oder ADHS, zu erkranken, erhöhen. Dazu untersuchst Du einige Kinder im Alter von 10 Jahren und erfasst, ob bei ihnen bisher eine Streptokokkeninfektion diagnostiziert wurde. Nach zwei Jahren befragst Du die gleichen Kinder nochmals hinsichtlich der Diagnosen Tourette und ADHS. Stellst Du einen Zusammenhang zwischen beiden Diagnosen fest, scheint es zunächst, als wäre die Streptokokkeninfektion ein möglicher Verursacher der späteren Krankheiten. Aber es kann auch alternative Erklärungen für den Befund geben (wieder sind die Ausführungen in dem Beispiel nicht inhaltlich richtig, sondern dienen nur Demonstrationszwecken). Möglicherweise gehen einige der Kinder öfter zum Arzt und deswegen werden bei ihnen auch eher Krankheiten diagnostiziert oder ein geringer sozioökonomischer Status bedingt schlechte Ernährung und damit ein schwächeres Immunsystem und eine suboptimale Entwicklung des Gehirns.
Auch dieses Beispiel unterstreicht die Wichtigkeit von theoriebasiertem Vorgehen: Wenn es plausible Theorien dazu gibt, wie eine solche Infektion weitere Spätfolgen haben kann, lohnt es sich, dieser Frage empirisch weiter nachzugehen. Andernfalls sind solche Befunde höchstens als vage Hinweise zu verstehen und können auch statistische Artefakte sein. Dabei sind mit statistischen Artefakten falsche Befunde oder Scheinbefunde gemeint, die aufgrund von Fehlern, also etwa Messfehlern, Durchführungsfehlern, Auswertungsfehlern oder Interpretationsfehlern zustanden kommen. Wenn man den Rückgang der Geburtenrate in westlichen Ländern auf den Rückgang der Anzahl der dort lebenden Störche zurückführt, begeht man einen Interpretationsfehler. Der Befund ist eigentlich nur ein statistisches Artefakt.
Es ist empfehlenswert, zu den verschiedenen Zeitpunkten die gleichen Probanden mehrfach zu befragen. Vor allem, wenn Veränderungen auf Individualebene beschrieben werden sollen, ist ein Paneldesign notwendig. Rekrutiert man für jeden Messzeitpunkt neue Probanden, handelt es sich um eine Trendstudie. Trendstudien sind, wie der Name andeutet, dazu geeignet, um Prävalenzen oder Trends abzuschätzen: z. B. Könntest Du einige Abiturienten in einem Jahr befragen, ob sie die sozialen Netzwerke Facebook oder WhatsApp verwenden und einige Jahre später die gleiche Umfrage unter Abiturienten durchführen. Daraus könntest du ableiten, ob die Nutzung der Netzwerke in bestimmten Altersgruppen zu- oder abgenommen hat.
Bei einer Paneluntersuchung begleitet man die gleichen Probanden über einen Zeitraum. Bei groß angelegten Längsschnittstudien werden die Probanden manchmal über viele Jahrzehnte von der Kindheit bis ins hohe Erwachsenenalter mitverfolgt. So kann man wertvolle Erkenntnisse darüber gewinnen, wie frühe Erfahrungen und Einflüsse mit späterer Gesundheit, Zufriedenheit, Berufserfolg, Beziehungsqualität und vielem mehr in Zusammenhang stehen. Das ist natürlich nicht nur extrem zeitintensiv und teuer, sondern Teilnahmeausfälle stellen natürlich eine große Herausforderung dar. Wenn nach mehreren Jahren nur noch 10% der ursprünglichen Probanden an den Umfragen teilnehmen, nimmt die Aussagekraft der Daten erheblich ab. Man muss also die Kontaktadressen pflegen und mit jedem Umzug aktualisieren und die Probanden mit Belohnungen oder kleinen Aufmerksamkeiten, wie z. B. Weihnachtskarten motivieren und Anreize zur kontinuierlichen Teilnahme schaffen.
Die Auswertung und Interpretation von Längsschnittstudien kann sehr komplex werden. Veränderungen in einer Längsschnittuntersuchung können auf drei verschiedene Effekte zurückgeführt werden, die oft schwer voneinander zu trennen sind. Zum einen kann es sich um Alterseffekte handeln. Wenn Du z. B. untersuchst, wie häufig Personen Partys besuchen, kann es sein, dass die Häufigkeit mit der Zeit deutlich abnimmt. Und das könnte daran liegen, dass die Probanden älter werden und ältere Menschen im Durchschnitt seltener feiern gehen als jüngere.
Zweitens kann es sich um Zeiteffekte handeln. Genauer gesagt sind das bestimmte Ereignisse im Zeitgeschehen, die alle Menschen betreffen und evtl. beeinflussen. Gab es beispielsweise eine Serie von Unfällen oder gewalttätigen Anschlägen auf Festivals, kann es sein, dass in der Folge Festivalbesuche deutlich zurückgehen. Das liegt dann nicht an dem gestiegenen Alter der Probanden, sondern den abschreckenden Medienberichten.
Schließlich gibt es Kohorteneffekte. Das sind generationenspezifische Merkmale, z. B. ein bestimmter Musikgeschmack, der Menschen ähnlicher Jahrgänge verbindet. Manchmal möchte man die Entwicklung bestimmter Kohorten weiterverfolgen.
In der Tabelle ist dargestellt, wie längs- bzw. querschnittliche Studien typischerweise aufgebaut sind. In der grün einkreisten Längsschnittstudie, wird eine Kohorte über einen langen Zeitraum, nämlich von 1970 bis 2010 begleitet. Zu Beginn der Studie sind die Probanden noch im Kindesalter, bei Studienabschluss schon ca. 50 Jahre alt.
Unterschiede in den untersuchten Variablen können nun entweder auf Alterseffekte zurückgehen: also, dass die Probanden sich während des Alterungsprozesses ändern, oder eben auf Zeiteffekte. Das kann man sich leicht überlegen: Dass im Jahr 1970 die meisten Probanden noch kein Mobiltelefon oder keinen Internetanschluss besitzen, bis zum Jahre 2010 nahezu alle darüber verfügen, dürfte an der zeitlichen Entwicklung liegen: dank des technologischen Fortschritts ist mittlerweile fast jeder deutsche Haushalt ans Internet angeschlossen und benutzt Mobiltelefonie. Das hat nichts mit dem Alter der Probanden zu tun. Wie häufig die Probanden auf Partys gehen, variiert aber eher alterstypisch, da Personen im jungen Erwachsenenalter lieber ausgehen als Ältere, es im Kindesalter aber noch gänzlich untypisch ist. Diese Unterschiede liegen also vermutlich eher nicht oder nur zu einem kleinen Teil an zeitlichen Entwicklungen, dass Partys allgemein beliebter oder unbeliebter geworden sind im Laufe der Jahrzehnte.
In der querschnittlichen gibt es nur eine Erhebung zu einem Zeitpunkt, die dafür aber einen breiten Bevölkerungsquerschnitt abbildet. Hier sind Alter- und Kohorteneffekte konfudiert. Wenn die 40-jährigen zum Großteil die Rolling-Stones als Lieblingsmusik angeben und die 20-jährigen Britney Spears, dann ist nicht klar, ob sich der Musikgeschmack mit dem Alter verändert oder ob er über die verschiedenen Kohorten hinweg unterschiedlich ist: je nachdem wann geboren wurde, bevorzugt man typischerweise die Musik, die während der eigenen Jugendzeit besonders populär war.
Es gibt übrigens auch noch aufwändigere Studiendesigns, in dem nicht nur eine Zeile oder eine Spalte aus der obigen Tabelle erhoben werden, sondern möglichst viele Zellen. Das soll es ermöglichen, alle beschriebenen Effekte möglichst genau zu trennen.
Großangelegte Studien, in denen eine Stichprobe über einen langen Zeitraum begleitet wird und an umfangreichen Befragungen teilnimmt, nennt man Kohortenstudien. Eine berühmte Kohortenstudie in Deutschland ist die Berliner Altersstudie, die seit den 90er Jahren weitergeführt wird und unter anderem die Mortalität bei hochaltrigen Personen untersucht.
Du könntest zum Beispiel die Kohorte aller Personen verfolgen, die in einem bestimmten Zeitraum in Deutschland einen akademischen Abschluss erhalten. Ist die wirtschaftliche Situation oder die Berufssituation für einige Universitätsabschlüsse zu dieser Zeit schlecht, gibt es in dieser Kohorte möglicherweise hohe Arbeitslosenquoten oder Beschäftigungen unterhalb dem Qualifikationsgrad der Probanden. Diese Kohorte dürfte deutlich andere Karriereverläufe als eine Kohorte von Absolventen während wirtschaftlichen Aufschwungs haben.
Um die Konfundierung von Zeit-, Alters- und Kohorteneffekten aufzulösen, können aufwändigere Designs eingesetzt werden, in denen verschiedenen Kohorten über längere Zeiträume hinweg untersucht werden. Das ist aber äußerst zeit- und kostenintensiv und erfordert deswegen eine gute Organisation und ausreichend finanzielle Mittel. Die Ergebnisse so einer Datenvielfalt können aber mitunter sehr aufschlussreich und wertvoll sein.